Das Agenda-Trauma

Geburtsstunde des Jobwunders oder neoliberale Armutsreform: SPD-Kanzlerkandidat Schulz will die Agenda 2010 in Teilen zurücknehmen. Was haben die Reformen gebracht? Von Zacharias Zacharakis, Ludwig Greven, Lisa Caspari, Marcus Gatzke, Katharina Schuler und Alexandra Endres 7. März 2017, 11:00 Uhr Aktualisiert am 7. März 2017, 11:19 Uhr

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Fast 14 Jahre sind vergangen, seit Gerhard Schröder im Bundestag seine Agenda 2010 “für mehr Beschäftigung” in Deutschland ausgerufen hat, und die Diskussion über die Wirkung seiner Reformen hält an. 

SPD-Kanzlerkandidat Martin Schulz hat nun im Wahlkampf angekündigt, Teile der umfassenden Arbeitsmarktreformen rückgängig zu machen. Schulz sagte, er halte sie für “einen Fehler”.

Welche Effekte aber die Agenda tatsächlich hatte – zum Beispiel auf den Arbeitsmarkt, für die Vermittlung von Langzeitarbeitslosen, die Situation von Arbeitslosen und Bedürftigen allgemein, die Mittelschicht, die Wettbewerbsfähigkeit deutscher Unternehmen –, ist umstritten.

Hat die Agenda 2010 den Arbeitsmarkt prekarisiert?

Ein Ziel der rot-grünen Regierung von Schröder war es, die Arbeitslosigkeit zu senken, die damals bei etwa zehn Prozent lag. Vor allem Langzeitarbeitslose und gering qualifizierte Arbeitnehmer sollten wieder einen Job finden – wenn auch einen schlecht bezahlten. Die Regierung verbesserte die Möglichkeiten der Unternehmen, Arbeitnehmer als geringfügig Beschäftigte anzustellen, und sie deregulierte die Leiharbeit. So konnten Leiharbeiter fortan zeitlich unbegrenzt angestellt werden und der Grundsatz, dass sie genauso viel Lohn erhalten sollten wie Festangestellte, wurde ausgehebelt.   

Dennoch sagt der Ökonom Holger Schäfer vom Institut der Wirtschaft (IW) in Köln, dass “die Agenda und der Niedriglohnsektor häufig fälschlich miteinander in Verbindung” gebracht würden. Der Niedriglohnsektor sei in Deutschland langfristig gewachsen – vor allem zwischen 1997 und 2007. “Die Entwicklung hat also schon weit vor der Agenda 2010 angefangen, die erst 2003 und 2004 in Kraft trat.”
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Per internationaler Definition sind Niedriglöhner Arbeitnehmer, die brutto weniger als 60 Prozent des mittleren Stundenlohns verdienen. In Deutschland fielen bis Mitte der 1990er Jahre etwa 15 Prozent der Arbeitnehmer in diese Gruppe. Nach Berechnung des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) ist ihre Zahl bis heute auf etwa 20 Prozent der Beschäftigten angewachsen. Auch in der Statistik des DIW entfällt der steilste Zuwachs auf die Jahre vor der Agenda.

Die Gründe sieht Schäfer “vor allem in der Globalisierung”. China und viele Länder des ehemaligen Ostblocks seien in den 1990er Jahren als neue Teilnehmer im Weltmarkt dazugekommen – mit Arbeitnehmern, die Produkte für den Export herstellten. “Diese sind indirekt mit Arbeitnehmern in Deutschland in Konkurrenz getreten, und da der chinesische Geringqualifizierte auch nicht schlechter arbeitet als der deutsche, aber viel weniger Lohn erhält, hatte China einen Wettbewerbsvorteil.” Die Konsequenz sei gewesen, dass gerade Unternehmen mit vielen eher gering qualifizierten Mitarbeitern ihre Produktion in Niedriglohnländer wie China verlagert hätten. “Und das hat letztlich auch die Löhne in Deutschland unter Druck gesetzt.”

Der Wirtschaftswissenschaftler Gerhard Bosch vom Institut Arbeit und Qualifikation der Universität Duisburg liefert eine andere Interpretation der Lage. Auch er sagt zwar, dass die “stärkste Zunahme der Niedriglohnbeschäftigung schon vor den Hartz-Gesetzen” erfolgt sei. Bosch hält aber die “großen Privatisierungen in den neunziger Jahren” für entscheidend – beispielsweise bei der Post, im Nahverkehr, bei der Müllentsorgung oder in der Telekommunikation. 

Mehr Leiharbeit, mehr Minijobs

Zacharias Zacharakis

Zacharias Zacharakis

Redakteur für Wirtschaft (Unternehmen), ZEIT ONLINE

Die Agenda-Reformen aber hätten dann auf ein Problem reagiert, das Deutschland gar nicht gehabt habe – nämlich eine zu geringe Wettbewerbsfähigkeit. Schon in den 2000er Jahren habe Deutschland einen Exportüberschuss erzielt, sagt Bosch. Der wirtschaftliche Aufschwung habe dann ab dem Jahr 2004 eingesetzt, die Agenda-Reformen aber traten da gerade erst in Kraft. “Der Effekt der Hartz-Gesetze bestand darin, dass trotz des Booms die Löhne im mittleren und unteren Bereich nicht anstiegen, sondern der Niedriglohnsektor sogar weiter wuchs.”

Vor allem die Neuregelungen in der Leiharbeit hätten dabei starke Auswirkungen gehabt. Die Zahl der Beschäftigten in diesem Sektor verdreifachte sich von damals 300.000 auf mehr als 900.000 und verharrt bis heute auf diesem Niveau. So sei ein dauerhafter Billiglohnsektor entstanden. Die offiziellen Zahlen bestätigen das: Nach Angaben der Bundesagentur für Arbeit lag 2014 das mittlere Bruttoeinkommen eines normalen Vollzeitbeschäftigten pro Monat bei 3.024 Euro, ein Leiharbeiter dagegen verdiente nur 1.758 Euro. Der Anstieg in der Leiharbeit hat somit zu einer Ausweitung des Niedriglohnsektors beigetragen, auch wenn dieser Trend schon in den neunziger Jahren begann. https://datawrapper.dwcdn.net/WcT3Q/3/

Die zweite große Agenda-Reform für den Arbeitsmarkt zielte auf die geringfügige Beschäftigung – besser bekannt als Minijob. Von 2003 an war es möglich, bis zu 400 Euro in einem Minijob zu verdienen, zuvor waren es 325 Euro. Auch geringfügige Nebenbeschäftigungen wurden attraktiver. “Beides führte dazu, dass 2004 ein Niveausprung stattfand bei der geringfügigen Beschäftigung”, sagt Schäfer vom IW Köln. Dennoch gelte, dass “die Minijobs zum Beschäftigungsaufbau im Wirkungszeitraum der Agenda-Reformen gar nichts beigetragen” hätten. Der habe erst 2006 begonnen.

Eine Statistik der Bundesagentur für Arbeit zeigt: Im November 2016 gab es 4,7 Millionen Minijobber in Deutschland. Und eine aktuelle Untersuchung der Hans-Böckler-Stiftung kommt zu dem Ergebnis, dass knapp die Hälfte von ihnen weniger als den gesetzlichen Mindestlohn verdiene, weil die Arbeitgeber sie einfach zusätzliche Stunden ohne Bezahlung arbeiten ließen.